LAUTER!!!

Früher, so vor 15 Jahren auf dem Schulhof in etwa, hörten Brillenträger Sätze wie „Ihh, guck mal die Brillenschlange“. Heute hören sie „Guck mal der süße Typ mit den Nerd Glasses, meinst du, der ist allein hier?“

Die Brillenvertreibende Lobby hat scheinbar keine Kosten und Mühen gescheut und es tatsächlich vollbracht Gläser im Gesicht zu einem Kennzeichen für Coolness, Hippness und sogar Sexappeal zu machen. Ich ziehe meinen Hut vor dieser Leistung. Vermutlich dauert es nur noch 2-3 Werbepausen bis es üblich wird zur Anerkennungsbekundung die Brille zu ziehen. Und dann. Dann steh ich blöd da! Denn mit meinen Augen ist alles in Ordnung. Immernoch. Ja, ich hatte über diese Ungerechtigkeit schon mal gemeckert….hier und auf twitter und auf facebook. Aber es besteht ja auch enormer Leidensdruck!!

Was dafür scheinbar bei mir so allmählich im Arsch is, ist mein Gehör. Beim Kaffeekaufen ereignete sich nämlich vorgestern folgende Szene:

Ich: „Und dann noch 4 Stangen davon und 2 Stangen von dem blauen.“

Verkäufer: „Wenn Sie 25 nehmen, dann kann ich Ihnen…“ Und dann nuschelte er irgendwas Unverständliches und das auch noch viieeeel zu leise.

Ich: „WAS??“

Verkäufer: „Ach, ja, schon gut.“ Und gut peinlich zu Boden und packt meinen Kaffee ein.

Ich wieder: „Was? Aber was denn??? Was passiert dann?????“ schreiend durch den Laden.

Verkäufer: „Ja, schon gut. Ähm“, wird rot und guckt peinlich auf die Kasse,“ das macht dann zweiundfünfigEurozwanzig.“

Ich, lauter, weil ich ihn noch weniger verstehe: „Aber WAS war denn nun?? Ich will das wissen!!! Waass???“ Langsam haben sich alle weiteren im Laden umgedreht und starren mich an. Der Mann mir gegenüber reicht mir derweil meine Tüte und schiebt mich aus dem Laden. Ich schreie weiter, ich will wissen, was ich bekommen hätte!!! Das werden mir Informationen vorenthalten! Was wäre wenn??? Ich sehe das Schnäppchen an mir vorbeiziehen! Alles nur, weil ich taub werde!

Wieder draußen gucken mich die coolbebrillten Kinder vor’m Starbucks verwirrt an und ich keife: „Zu meiner Zeit haben wir noch an Bushaltestellen rumgelungert!“ Dann packe ich meinen Kaffee und gehe. Und jetzt… jetzt hoffe ich, dass Hörgeräte ganz bald cool werden. Und das Internet hat mir mal wieder Hoffnung geschenkt, denn auf den Seiten von Designaffairs, fand ich diese Hammerhörhilfe:

Das Problem dabei ist nur….meine Ohrlöcher sind viel zu klein. Mann, ich und die Coolness, wir kommen einfach nicht zusammen. Nicht mehr in dieser Welt.

SehSchwäche – Teil 3 des Brillenkampagnenkonflikts

Ich bin die, die gerade feststellt, dass sie ein Loch in der linken Socke hat. Ich bin die, die das Loch, mit 99 prozentiger Wahrscheinlichkeit, wieder vergisst und die kaputte Socke dann doch wieder mitwäscht. Ich bin die, die falls sie dran denkt die kaputte linke wegzuwerfen, nicht dran denkt auch die rechte auszusortieren und später den gesamten Kleiderschrank ausräumt, auf der Suche nach der anderen Socke mit den blauen Streifen. Ich bin die, für die es keine Welt mehr außerhalb der medialen Milchstraße gibt.
Auf meinem kleinen Exkurs in die „reale Welt“, diesem mystischen Ort irgendwo zwischen meiner Wohnung und der Innenstadt – der nicht mit www. beginnt und .de oder .com endet, diesem Ort, an dem man sich nicht plötzlich an einer anderen Stelle wiederfindet, wenn man gegen ein Werbeplakat klopft (denkt nicht, ich hätte es nicht versucht) – steht er plötzlich vor mir. Auf Konfrontationskurs. Real, in Farbe und zum Anfassen. Ein Werbeaufsteller mit Plakaten der aktuellen Apollo-Kampagne. Ich hatte ja schon mal erwähnt (so nebenbei), dass ich die Aussage des TV-Spots „Ich bin die, die auf der Rolltreppe liest“ ähnlich spannend finde, wie besagtes Loch in meiner Socke. Aber wie die Geschichte mit dem Loch, endet auch das Apollo-Abenteuer noch lange nicht. Vielleicht bin ich verdorben verwöhnt von der Sprache des Spektakels, in der das Tagesgeschehen sonst an mich herangebracht wird, aber die Copy des Plakats ringt mir nur ein „a….ja“ ab:

Wir sehen einen Mann am BECKENRAND bzw. AUßERHALB(!!!) des Wassers in Badesachen bzw. Kleidung, mit der er nicht in der Fußgängerzone stehen sollte, auch nicht auf einem Plakat (nackich ist nackich, ob nun mit Blutzirkulation oder ohne), begleitet von den Worten: „Ich bin der, dem kaltes Wasser nichts ausmacht.“ Ist das so? Hm. Seh ich nicht. Es heißt ja immer Werbung lüge, aber so direkt muss das nun auch nicht umsetzen. Von diesem Problem mal abgesehen, ist in kaltem Schwimmbadwasser schwimmen nicht gerade Extremsport und damit nicht wirklich eine Qualität, die den Dargestellten als einzigartig erscheinen lässt, und das will die Anzeige ja scheinbar, wenn es dann heißt „Ich bin der, für den diese Brille gemacht ist“.
Ich bin die, die die Anzeige immernoch doof findet, aber die sich langsam fragt, ob hier eigentlich das Produkt das Problem sein könnte. Tatsächlich abenteuerlich ist nämlich die Zeichenevolution, die Brillen in den letzten Jahren durchlaufen haben. Ferdinand de Saussure, seines Zeichens Schweizer und schon fast ein Jahrhundert ohne Blutzirkulation, aber dennoch unsterblich dank seines Beitrags zur Sprachwissenschaft, verdanken wir u.a. die Unterscheidung in Signifikant und Signifikat. Saussure hat das viel ausführlicher und schöner, weil französischer erklärt, aber damit wir alle auf einem Level sind eine kurze Zusammenfassung: Es gibt immer ein Ding (aus Plastik, Metall und Glas zum Beispiel) und eine Bezeichnung dafür (Brille zum Beispiel), die aber eben nicht nur auf das eine Ding aus Plastik, Metall und Glas verweist, sondern auch auf andere (z.B. Brille -> Klobrille). Drum denken wir bei Brillen eben nicht nur an was zum besser sehen, sondern auch an Brillenträger. Und das waren früher eben genau die Jungs, die am Beckenrand rumsaßen, weil sie darauf warteten, dass sie doch noch jemand in sein Team wählen würde. Die, die im Unterricht keine kleinen Briefchen mit Multiple-Choice-Liebesbekenntnissen erhielten. Die, die nach der Schule ihre Hausaufgaben machten, statt Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht. Die Streber, die Außenseiter, die mit der Brille eben.
Statt sich mit den Folgen zu früh und zu unerfahren gemachter sexueller Aktivitäten aufhalten zu müssen, sind die mit der Brille aber nach der Schulzeit an die Spitze der Trenddiktatur geklettert und verkünden die neue Glaubensbotschaft: content matters.

Der Nerd (englisch für Sterber) ist das aktuelle männliche Ideal einer Generation von Antihelden. Früher verschriene Brillen werden heute von Menschen getragen, die gar keine brauchen, weil es Ihnen aber genau diesen verkorkst, tiefsinnigen Akzent verleiht, den Apollo als Macken, die uns ausmachen zu präsentieren versucht. Content matters, aber design halt doch auch, denn in Wirklichkeit ist der „moderne Nerd“ eben nicht der komische dürre blasse Junge, der von Mama-ausgesuchte T-Shirts trägt und unangebracht lacht, wenn er merkt, dass das süße Mädchen garnicht ihn angelächelt hat, sondern den großen mit dem breiten Kreuz. Der Nerd ist auch nicht die Version 2.0 dieses Strebers, sondern die Version 2.0 der Jungs, die auch früher schon cool waren, und sich nun einfach eine coole Brille aufsetzen. Der Nerd ist eben gerade keiner, der den ganzen Tag zu Hause sitz, sondern eher ein Bohemian der in Gesellschaft sein Individualität kund tut. Einer, der in Aufmerksamkeit baden will, statt in kaltem Wasser. Der, der viel zu arrogant und von sich selbst überzeugt ist, um sich irgendwelche Macken einzugestehen.

Die Brille ist Teil eines neuen Kontexts, aber die Anzeige, die, die mich verfolgt, ist und bleibt im alten und im neuen Bedeutungsgeflecht ein kauziger, komisch riechender Außenseiter.

Am Anfang schuf ich Himmel und Erde

Ich möchte von vorneherein warnen: dieser Text wird lang, richtig lang und er wird Fortsetzungen haben. Solltet ihr euch mental und emotional nicht in der Lage fühlen, das Warten, Bangen, Rätseln und Zweifeln zu ertragen, solltet ihr es einfach nicht aushalten, sondern wollt sofort wissen, wie es weitergeht. Dann empfehle ich jetzt hier aufzuhören und in den nächsten Tagen, wenn dann auch die Fortsetzung online ist wiederzukommen. Tschöö! Bis die Tage!

Willkommen zurück heute, am welchen-Tag-wir-auch-immer-grad-haben-mögen. Was zerriss mir nun also meine Beiträge und spaltete mein schöpferisches Schaffen in mehrere Teile? Was war die Wurzel einer kleinen Blogpost-Serie? a) Krieg b) Radioaktive Verstrahlung c) das Zusammenbrechen unseres Wirtschaftssystems d) Werbung. Antwort d natürlich. Was sonst. Ich hatte ja bereits angemerkt, dass mir gute Werbung lieber ist, als schlechtes Fernsehen. Und nun habe ich Werbung gefunden, die zwar weder gut noch schlecht ist, aber einen Nerv bei mir trifft, weil sie ein Phänomen aufgreift, das mir inzwischen den letzten Nerv raubt: Individualität. Das Damoklesschwert einer Generation, die Religion, Politik und die Suche nach dem Sinn des Lebens aufgegeben hat, um sich mit vollem Herzen dem Narzissmus zu widmen. Sich selbst nicht nur für Gottes Geschenk an die Welt, sondern für die eine, einzige wahre Gottheit überhaupt und sowieso zu halten, verursacht aber blöderweise ein paar grundlegende Probleme. Entweder man gibt den Monotheismus auf und akzeptiert, dass es mehr als einen von der eigenen Art gibt, oder man sucht nach Bestätigung für die eigene Einzigartigkeit. Früher hat man das gemacht, indem man sich jemanden anderes gesucht hat, dem man dann lauter negative Sachen nachsagte, um selbst besser dazustehen. Mit ‚früher‘ meine ich den Verlauf der Menschheitsgeschichte (Rassismus, Antisemitismus, Sexismus und Otherness und das Alles) und zugleich früher im Sandkasten (Die Nora ist doof!). Jetzt mit Liberalismus, political correctness und Co. schreiben wir die negativen Eigenarten nicht mehr den anderen zu, sondern uns selbst. Und tun dann so, als wären sie was Tolles, was Besonders, eben die „Macken, die uns einzigartig machen“. Und genau das greift die aktuelle Kampagne von Apollo-Optik auf. Da sagt eine wirklich gut, aber nicht einzigartig, sondern mainstream-ideal-perfekt-schlank-lange-beine-lange-haare-tolle-haut-das-komplett-packet-eben aussehende Frau: „Ich bin die, die auf der Rolltreppe liest.  …Ich bin die, die nie weiß, ob das Licht noch brennt. Ich bin die, die sich im Taxi umzieht. Ich bin die, für die diese Brille gemacht ist.“ (I’m paraphrasing. Kein wörtliches Zitat, ich hab was ausgelassen. Verklagt mich nicht.) Auf einem Poster sehen wir einen ebenfalls idealtypischen Kerl und die Copy: „Ich bin der, der seine Platten nach Farben sortiert.“ Ich möchte dazu aufrufen, dass der Kommentar eines Horizont-Lesers bitte in die Plakatkampagne implementiert wird: „Ich bin der, der sagt das dieser Spot Müll ist.“ High-Five!

Aber es gibt auch Kommentare, die den Spot nicht ‚verspotten‘ (hö!hö! Ja, ja, finde nur ich lustig. Wiedermal.), sondern loben. Der moderne Kunde/Konsument findet Macken nämlich nicht mehr anstrengend, sondern angesagt. Macken machen uns zu Marken, meine These. Drum scheinen Marotten auch als Legitimation und Kerninhalt des Bloggens obligatorisch zu sein. Sie sind ‚part and parcel‘ (wie die Amerikanistin sagt), wenn man zu Ruhm und Reichtum gelangen will. Das belegt zumindest mein Blick in die Listen der beliebtesten Blogs. Besonders gern gelesen wird nicht nur über Internet-Thema Nummer Eins „Sex“, sondern über Menschen die ihre Fehler nicht verbergen, sondern in ihrer ganzen Fülle ausbreiten und darin schwimmen gehen. Menschen mit komischen Berufen, komischen Hobbies und besonders gern Neurosen und Eigenarten. Das reicht von echten Krankheiten, wie allerlei Essstörung (Chew-and-Spit. WTF?? Essen ohne Schlucken!! Wie viele Leute da wohl landen, die eigentlich nach Pornographie gesucht haben? Hö!Hö! Ja, finde wieder nur ich lustig. Nicht komisch. Ja,ja,ja.), bis hin zum Faible für Fotos von Müsliflocken (da schau an, die sind auch alle einzigartig. Eine Parallele!). Individualismus funktioniert also. Und funktioniert über: Besonderheiten. Da mein Blog aber nun mal gerade das Weitverbeitete thematisiert, muss ich mir wohl auch einen Fimmel zulegen, wenn ich es hier zu was bringen will. Da ich mich aber außer Stande fühle allein zu entscheiden, was aus mir eine ‚Individuelle‘ machen könnte, habe ich eine zweite Meinung hinzugezogen:

….. Fortsetzung folgt….