Ich bin die, die gerade feststellt, dass sie ein Loch in der linken Socke hat. Ich bin die, die das Loch, mit 99 prozentiger Wahrscheinlichkeit, wieder vergisst und die kaputte Socke dann doch wieder mitwäscht. Ich bin die, die falls sie dran denkt die kaputte linke wegzuwerfen, nicht dran denkt auch die rechte auszusortieren und später den gesamten Kleiderschrank ausräumt, auf der Suche nach der anderen Socke mit den blauen Streifen. Ich bin die, für die es keine Welt mehr außerhalb der medialen Milchstraße gibt.
Auf meinem kleinen Exkurs in die „reale Welt“, diesem mystischen Ort irgendwo zwischen meiner Wohnung und der Innenstadt – der nicht mit www. beginnt und .de oder .com endet, diesem Ort, an dem man sich nicht plötzlich an einer anderen Stelle wiederfindet, wenn man gegen ein Werbeplakat klopft (denkt nicht, ich hätte es nicht versucht) – steht er plötzlich vor mir. Auf Konfrontationskurs. Real, in Farbe und zum Anfassen. Ein Werbeaufsteller mit Plakaten der aktuellen Apollo-Kampagne. Ich hatte ja schon mal erwähnt (so nebenbei), dass ich die Aussage des TV-Spots „Ich bin die, die auf der Rolltreppe liest“ ähnlich spannend finde, wie besagtes Loch in meiner Socke. Aber wie die Geschichte mit dem Loch, endet auch das Apollo-Abenteuer noch lange nicht. Vielleicht bin ich verdorben verwöhnt von der Sprache des Spektakels, in der das Tagesgeschehen sonst an mich herangebracht wird, aber die Copy des Plakats ringt mir nur ein „a….ja“ ab:
Wir sehen einen Mann am BECKENRAND bzw. AUßERHALB(!!!) des Wassers in Badesachen bzw. Kleidung, mit der er nicht in der Fußgängerzone stehen sollte, auch nicht auf einem Plakat (nackich ist nackich, ob nun mit Blutzirkulation oder ohne), begleitet von den Worten: „Ich bin der, dem kaltes Wasser nichts ausmacht.“ Ist das so? Hm. Seh ich nicht. Es heißt ja immer Werbung lüge, aber so direkt muss das nun auch nicht umsetzen. Von diesem Problem mal abgesehen, ist in kaltem Schwimmbadwasser schwimmen nicht gerade Extremsport und damit nicht wirklich eine Qualität, die den Dargestellten als einzigartig erscheinen lässt, und das will die Anzeige ja scheinbar, wenn es dann heißt „Ich bin der, für den diese Brille gemacht ist“.
Ich bin die, die die Anzeige immernoch doof findet, aber die sich langsam fragt, ob hier eigentlich das Produkt das Problem sein könnte. Tatsächlich abenteuerlich ist nämlich die Zeichenevolution, die Brillen in den letzten Jahren durchlaufen haben. Ferdinand de Saussure, seines Zeichens Schweizer und schon fast ein Jahrhundert ohne Blutzirkulation, aber dennoch unsterblich dank seines Beitrags zur Sprachwissenschaft, verdanken wir u.a. die Unterscheidung in Signifikant und Signifikat. Saussure hat das viel ausführlicher und schöner, weil französischer erklärt, aber damit wir alle auf einem Level sind eine kurze Zusammenfassung: Es gibt immer ein Ding (aus Plastik, Metall und Glas zum Beispiel) und eine Bezeichnung dafür (Brille zum Beispiel), die aber eben nicht nur auf das eine Ding aus Plastik, Metall und Glas verweist, sondern auch auf andere (z.B. Brille -> Klobrille). Drum denken wir bei Brillen eben nicht nur an was zum besser sehen, sondern auch an Brillenträger. Und das waren früher eben genau die Jungs, die am Beckenrand rumsaßen, weil sie darauf warteten, dass sie doch noch jemand in sein Team wählen würde. Die, die im Unterricht keine kleinen Briefchen mit Multiple-Choice-Liebesbekenntnissen erhielten. Die, die nach der Schule ihre Hausaufgaben machten, statt Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht. Die Streber, die Außenseiter, die mit der Brille eben.
Statt sich mit den Folgen zu früh und zu unerfahren gemachter sexueller Aktivitäten aufhalten zu müssen, sind die mit der Brille aber nach der Schulzeit an die Spitze der Trenddiktatur geklettert und verkünden die neue Glaubensbotschaft: content matters.
Der Nerd (englisch für Sterber) ist das aktuelle männliche Ideal einer Generation von Antihelden. Früher verschriene Brillen werden heute von Menschen getragen, die gar keine brauchen, weil es Ihnen aber genau diesen verkorkst, tiefsinnigen Akzent verleiht, den Apollo als Macken, die uns ausmachen zu präsentieren versucht. Content matters, aber design halt doch auch, denn in Wirklichkeit ist der „moderne Nerd“ eben nicht der komische dürre blasse Junge, der von Mama-ausgesuchte T-Shirts trägt und unangebracht lacht, wenn er merkt, dass das süße Mädchen garnicht ihn angelächelt hat, sondern den großen mit dem breiten Kreuz. Der Nerd ist auch nicht die Version 2.0 dieses Strebers, sondern die Version 2.0 der Jungs, die auch früher schon cool waren, und sich nun einfach eine coole Brille aufsetzen. Der Nerd ist eben gerade keiner, der den ganzen Tag zu Hause sitz, sondern eher ein Bohemian der in Gesellschaft sein Individualität kund tut. Einer, der in Aufmerksamkeit baden will, statt in kaltem Wasser. Der, der viel zu arrogant und von sich selbst überzeugt ist, um sich irgendwelche Macken einzugestehen.
Die Brille ist Teil eines neuen Kontexts, aber die Anzeige, die, die mich verfolgt, ist und bleibt im alten und im neuen Bedeutungsgeflecht ein kauziger, komisch riechender Außenseiter.